Übung Korpuslinguistik: AnwendungenDer Forschungsprozess: Von der Forschungsfrage zur Korpusanalyse
In diesem Kurs haben wir Werkzeuge und Korpora kennengelernt, damit gearbeitet und dabei gesehen, was man damit anstellen könnte. Das ist jedoch ein untypisches Verfahren in einem Forschungsprozess.
Normalerweise geht man den umgekehrten Weg: Die Festlegung von Korpus und Methode, sowie die eigentliche Korpusanalyse stehen am Ende eines Weges der
Operationalisierung einer Forschungsfrage:
Forschungsfrage
Die Forschungsfrage ist normalerweise relativ vage und weit gefasst. Z.B.:
- Nimmt geschriebene Sprache eigentlich immer mehr Formen des Gesprochenen an?
- Wie ist eigentlich die Einstellung der Leute zu Anglizismen im Deutschen?
- Gibt es in den letzten 10 Jahren eine Veränderung, wie über Terror gesprochen wird?
These
Die Forschungsfrage muss zu einer oder mehreren Thesen zugespitzt werden, die man falsifizieren (oder ggf. verifizieren) kann. Z.B.:
- Bestimmte typische Merkmale gesprochener Sprache treten in bestimmten Textsorten immer häufiger auf.
- Bezüglich der Einstellung zu Anglizismen sind in der Presse zwei typische Argumentationsmuster auszumachen: 1) Anglizismen im Deutschen sind etwas völlig natürliches und gehören zum Sprachwandel. 2) Zuviel Fremdmaterial schadet dem Deutschen und es geht dabei unter.
- Die Semantik von Terror hat sich in den letzten 10 Jahren in der geschriebenen Sprache verändert: Früher wurde unter "Terror" mehr, vor allem auch nicht gewalttätige oder kriegerische Vorgänge, gefasst, was heute kaum mehr der Fall ist.
Operationalisierung
Hier liegt die grosse Schwierigkeit empirischen Arbeitens: Wie kann die These so operationalisiert werden, dass Faktoren vorliegen, die man konkret empirisch testen kann? Immer wieder muss geprüft werden, ob die Operationalisierung tatsächlich die These falsifizieren oder verifizieren kann, ob sie also
valide ist:
- Validität: Das Gemessene/Analysierte sagt auch tatsächlich etwas über das aus, was man messen, analysieren möchte.
Zudem muss die Analyse
reliabel (zuverlässig) sein:
- Reliabilität: Das Messen/Analysieren muss bei einer Wiederholung zu einem anderen Zeitpunkt durch andere Personen, aber unter den gleichen Bedingungen und Regeln, zum gleichen Resultat führen.
Meist kann nur ein Teil der These operationalisiert werden und man muss versuchen, mit mehreren unterschiedlich gelagerten Analysen Hinweise für oder gegen die These zu finden.
Die erste der oben skizzierten Thesen könnten z.B. so operationalisiert werden:
- Bestimmte typische Merkmale gesprochener Sprache treten in bestimmten Textsorten immer häufiger auf.
Wir legen 3 konkrete Phänomene gesprochener Sprache fest: Preposition Stranding, Satzabbrüche, Interjektionen. Danach untersuchen wir ein Korpus, das folgende Texte enthält:
NZZ-Artikel der Jahre 1995, 2000, 2005
Artikel der tageszeitung der Jahre 1998, 2000, 2005
Private E-Mails an/von mind. 100 verschiedenen deutschsprachigen Empfängern von 2000 und 2005
Wir sehen dabei sofort, dass wir damit die These nur zum Teil decken können:
- Wir legten drei Phänomene gesprochener Sprache fest; sind das aber typische Merkmale?
- Wir legten einen Zeitraum fest; reicht dieser Zeitraum, um eine Entwicklung zu dokumentieren?
- Wir legten ein Korpus fest, das bestimmte Textsorten enthält und zeitungslastig ist; das Gemessene kann sich also nur darauf beziehen und nicht auf "geschriebene Sprache" im Allgemeinen.
Diese Einschränkungen müssen im Hinterkopf behalten, transparent gemacht und in die These miteinbezogen werden.
Korpusaufbau, Methodenentwicklung, Pretest
Zu Korpusaufbau und Methoden lese man die entsprechenden Kapitel dieses Kurses. Natürlich muss an dieser Stelle evaluiert werden, welche Methoden die operationalisierten Forschungsfragen beantworten können. Oft können mehrere Methoden angewandt werden, die man so gegeneinander abwägen muss.
Operationalisierung, Korpusaufbau und Methodenentwicklung ist ein im Kreis laufender Prozess. Zudem sollte mit Pretests anhand eines Teilkorpus immer wieder überprüft werden, ob die angestrebte Methodik überhaupt funktioniert.
Korpusanalyse, Evaluation/Interpretation
Nun kann das gesamte Korpus analysiert und die Resultate hinsichtlich der Thesen evaluiert und interpretiert werden. Ggf. muss man die These und/oder die Operationalisierung korrigieren und den Analyseprozess wiederholen.
Das Copyright dieses Kurses liegt bei Noah Bubenhofer. Bei Zitaten oder Verweisen darauf, freut der Autor sich über
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Ebenso bei Fehlern und anderen Hinweisen!
Diese elektronische Ressource soll wie folgt zitiert werden:
Bubenhofer, Noah (2006-2024): Einführung in die Korpuslinguistik: Praktische Grundlagen und Werkzeuge. Elektronische Ressource: http://www.bubenhofer.com/korpuslinguistik/.