Schluss und aus

Das Sprechtakel ist zu Ende. Vor einem Jahr definierten wir Sprechtakel:

Reden wir darüber, was wir wie sagen, wird das Gerede zum Sprechtakel.

Und in 74 Artikeln gingen wir diesen Sprechtakeln im 2006 auf den Grund. Doch mit dem heutigen Eintrag ist damit Schluss: Das Experiment, Linguistik anwendungsbezogen und öffentlich zu betreiben, war teilweise erfolgreich, wie z.B. diese supernetten Kommentare immer wieder beweisen (komischerweise auf Englisch…): „Excellent website!“ fand „Zyloprim“, „Hi! Lovely blog you have here!“ meinte „Allegra D“, oder auch mal kritisch: „Oh, really? Are you Sure?“ hakte „Zyrtec“ nach und „Excellent idea. I will try it.“ bekundete „Viagra“!

So sehr ich diese liebenswerten Spamkommentare schätze, über die anregenden Anmerkungen von euch Leserinnen und Lesern, die hie und da gemacht wurden, freute ich mich dann doch mehr.

Das mit der breiten Öffentlichkeit war jedoch nur punktuell erfolgreich. Am meisten Hits erlangte die Behauptung, die Schweizer hätten 1:0 gesiegt, die Entdeckung von Schweizer Euro-Münzen oder natürlich das sexy Wetter, wie alles, was die phatische Funktion von Sexy-Titeln auskostete: Der alte Knacker und die junge Tussi oder Wenn die Bäckersfrau in Rätseln spricht. Oder: Der Wert nackter Wörter.

Doch grosso modo waren die Leserinnen und Leser genau das: Leserinnen und Leser. Die Kommentarfreudigkeit hielt sich in Grenzen. Doch immerhin taten sie das einigermassen fleissig: monatlich zwischen 5000 und 10’000 Besuche verzeichnete der Server, wobei der „GoogleBot“ einer der fleissigsten Gäste war…

Inspirierend waren immer wieder bloggende KollegInnen, die ich auch gleich als Sprechtakel-Ersatz weiterempfehlen kann: Wortreich, der linguistische Monarch (wobei ich zugeben muss, dass ich in seinem Reich nicht selten revoltieren wollte), das GoetheBlog, KHO aus hamburgischen Sentimentalitäten, der Wortistiker, der/die Blogwiese, der enzyglobe, die Technologie du Langage

Es hat Spass gemacht! Die Welt linguistisch kommentieren könnte man auch im 2007, doch jetzt verlässt der Herr Sprechtakel erst mal die Bühne. Es bleibt das Archiv!

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Einkaufen mit Anna und Betty

Das hier wird der zweitletzte Sprechtakel-Eintrag sein. Doch dazu noch in diesem Jahr mehr. Denn zum Abschluss muss ich noch zwei Einkaufszettel los werden, die auf meiner Harddisk des Kommentars harren. Wir diskutierten kürzlich bereits die Intimitäten eines gelben Einkaufszettels. Doch was halten Sie davon?

Banane, Eier, Apfel (Äpfel?), Birnen, so fängt das mal unauffällig an. Doch dann die „Zuchini“! Auch Google fragt vorsorglich zurück: „Meinten Sie: zucchini“? Doch auf über 43’000 deutschsprachigen Seiten ist auch von „Zuchini“ die Rede. Selbst auf 245 italienischsprachigen Seiten finden sie sich.

Mehr Rahm ist mehr als Rahm

Doch halten wir uns nicht mit solch orthografischen Feinheiten auf. „Mehr Rahm“ entziffere ich! Diese hübsche Quantifzierung lässt sofort die Frage entstehen, ob dieser Einkaufszettel für den Eigengebrauch geschrieben oder aber an jemand anders gerichtet ist. Denn bei „mehr Rahm“ wird eigentlich die Grice’sche Maxime der Modalität verletzt: Unnötige Information! „Mehr“ hilft nicht viel weiter; wenn Rahm eingekauft werden muss, ist ja egal, ob zuhause noch welcher im Kühlschrank steht. Doch eben: Damit könnte die Information verbunden sein: „Ich weiss, dass wir noch Rahm im Kühlschrank haben! Aber ich plane ein tolles Dessert, deshalb wird der nicht reichen. Also bitte noch mehr Rahm einkaufen!“.

Die Käse-Spezifizierung „Vollfett“ ist in einer Welt der Light-Produkte herzerfrischend sympathisch. Doch vielleicht ist das ja eher als Kommentar eines Dritten im Slang-Jargon gedacht? „Hey, Käse! Cool, das ist ja vollfett!“

Alphabetisch geordnete Kassenzettel

Die „Bio Butter“ lässt uns zweifeln: Was ist denn mit den anderen Produkten? Jeweils auch Bio? Wobei ich an dieser Stelle gerade meinem Ärger Luft machen muss, dass auf den Kassenzetteln bzw. Quittungen nach dem Einkauf in Coop oder Migros definitiv zu viele Produktnamen mit „Bio“ beginnen. Das ist jammerschade, da dann das Spiel, die Produkte in alphabetischer Reihenfolge aufs Band zu legen, um einen alphabetisch geordneten Kassenzettel zu erhalten, an Reiz verliert. Zu eintöntig ist das, wenn alles mit „Bio“ beginnt… Doch das ist eine andere Geschichte!

Nach der ökologisch korrekten Bio-Butter (wir sehen hier: der Duden würde einen Bindestrich verlangen, doch das ist nicht schick: Auf den Kassenzetteln erscheinen solche auch höchst selten!) folgen problematischere Produkte: Avocado und Papay(a). Letztere musste aus ökoschamhaften Gründen das letzte A im Herkunftsland lassen. Dafür ist beim Schreiben von „Melone“ eine ebensolche auf den Tisch geflogen, was zu einem hübschen Hüpfer nach dem „e“ führte…

Mirakulös ist auch der letzte Einkaufszettel:

„Z- + T-Saft“? Wohl Zitrone und Tomate – doch so nah diese beiden Produkte graphematisch sind (und so zu einem Paket abgekürzt werden können), so fern voneinander werden sie im Laden platziert sein! Immerhin sind am Schluss „Shampo“ und „Deo“ thematisch einigermassen geordnet, was man von allen anderen Produkten nicht behaupten kann! (Über die Schreibweise von „Shampo“ schauen wir mal hinweg. Warum nicht: Schampo? Oder ist es etwa die „Stampa“?)

Verirrung zwischen den Regalen

Aber was um Himmels Willen ist mit „Menu“ gemeint? Ach ja: Im Zeitalter von Anna und Betty kann man sogar ganze Menüs einkaufen. Oder handelt es sich dabei bloss um einen Verweis auf einen weiteren Einkaufszettel, der mit „Menu“ beschriftet ist und alle Zutaten enthält, die für die Zubereitung ebendieses besorgt werden sollen? Wenn ja, schaudert es mich vor der thematischen Unordnung auf diesem Einkaufszettel und ich bin überzeugt: Vom Zeitpunkt des Eintritts ins Geschäft bis zum Zücken der Cumulus- oder Superkarte dauerte es mindestens drei Stunden…

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Asbest der Liebe

Wenn Sie noch verzweifelt ein Geschenk für Weihnachten suchen, habe ich etwas für Sie. Fragen Sie Ihre nette Buchhändlerin nach dem „Enzyklop“ (Edition diá Berlin, 2001)! Dieses Wörterbuch enthält das ganze Vokabular, das Sie benötigen, um das Fest der Liebe zu überleben.

„Weihnachten“ werden Sie zwar nicht darin finden. Doch das ist kein Qualitätsmangel, denn stattdessen finden Sie verzeichnet: Weib|leich, weil|geil, wein|sam oder Wen|nich|nur|wüs|te. Und im folgenden Interview mit dem Autor zeigt sich, dass bei ihm auch die Metapher „Fest der Liebe“ nicht gilt. Er nennt sie: Asbest der Liebe.

Der Känguru von Erfindien: Ideen übeldauern hänger

Herr Sprechtakel: Sie sind der Verfasser des Enzyklops, eines Wörterbuchs, wie es im Untertitel heisst. Im Direktvergleich mit dem Duden zeigt sich: Der Enzyklop listet z.B. „Kän|gu|ru, der“ auf, der Duden aber „Kän|gu|ru, das“. Warum ist Ihre Lösung die richtige?

phrasardeur: Flieh mir klein befreundeter Kennguru neuschlich mitgeweilt hat, ist zweides nicht besonders richtig. Das Känguru komme von Australien, der Känguru aber von Erfindien, dem vormalengern Astralien. Flenn ich nun baldso die Herkunft Bettrache und in Bettzeug ziehe, äh, sthet das Marterielle dem Inmaterrealen gehgern rüber. Daseinende ist wertgänglich, Ideen übeldauern hänger. Zu optimistrauisch? Das Gähnguru ist ölig gebeutelt, abgegluzt und die Benutzzung mit Ausdruck zusehend unflationär. Vom Känguru kann das niemind, nobloody, behaupten. Eine und nicht zige Abbildung (x ist hier, verbleiche Anhang). Statt Esstisch besehn, versteht etwas keimnahiges einem eitern fällt von Beleibigkeit fies à vis.

Die Angsttrennungen der DudenRedAktion

Herr Sprechtakel: Und warum finde ich im Duden keinen Eintrag für „Kuh|da|ver, der: Almähleiche, toteliger Wiederkäuer“, bei Ihnen aber schon?

phrasardeur: Allen Angsttrennungen der DudenRedAktion zum Rotz: die scheuen einflach nich richtig Ding! Wähn einer wie Sie oder ich über Dewiesen flankiert, miet hoffene Äuglein (Vers: seht Siech!) dann zehln wir doch almmehrlich Viehleichten, will sargen, mausetrottelige Hindividuen, Hang alles Emden und Hecken. Kann Hauch sein, weil Tier nichts mit Phantasie zu Huhn habn wolln?

Herr Sprechtakel: Ist ein Wort im Lexikon mächtig, nichtig oder höchstens übernächtigt?

phrasardeur: Alles in Allem alles! Kleine Franzwöschische redens artig und zagt: „Nur das Provisorische hält ewig“ (übt er setz, die Redkt.) Zoo gesehn hisst „Der Enzyklop“ zur Fahne u. flucht: für immer! für immer! (Wimmer) Fleurter sind Gebiss mächtig, manchmal zwarr schnurr mit sch (Ode R.) ohn vorahn. Unterm Stich: (Gegengelage) Wie comment Sie zu Ihr, ähem, schlaff? Mächtig, nichtig oder, im Falle des Fouls, übernächtigt?

Wenn die stilen Wörtchen auswillgern

Herr Sprechtakel: Was würde passieren, wenn die Wörter im Enzyklop in die freie Wildbahn gerieten? Oder sind sie dort schon?

phrasardeur: … und irr, dass ein als einzellgänglerische Geistesabwesen aufleben würden? Tja. Sie ziehn schon fort, tralalarüber best eht keine… 2 fehln! Ob schön sie naht ührlich nicht als solch Esswahr benommen, wer denn? Die, eben dies, schwört er. Das Auswillgern der lauern, stilen Wörtchen geht nur schwerleicht vortan. Sie bringähn da was zur Rache, so wars; wie den wringenden Prunk. Teerzeitpunkt um fiel leicht diese f rage, bezirzzungsweise Wandfort, an den geneigten Lesers und die Leserhin zum Richten?

Herr Sprechtakel: Sind Wörter Schall und Rauch?

phrasardeur: Ex hackt. Überschall und Brauch in geflissend Sinnlee. Mal ausgebrochen nehmen sie stieren Lauf, sehnen sich da Ruhm, szenen sich dort rum, lassen sicher gähn, nur um fandkehrum niederzukommen. Sie schmüsen zwissen, Wörter fühlen ein gebmeines Liebstes, eben. Feine Art Karmasutra. Wiesoll man (frauch) taritara plahnen, sich frohstellen, antipathyzipieren was da patzieren wird? Bauch erfahrene Flexperten sehn Ta rot. Kannichihnchen auch glar nicht querdenken, hehrlich! Ober, um kauf Ihr Anliegern zu klonen. Einsing. Und sei es auch nur abstrakt um, ein Ding ist Mär als es ist. Vierklung klennt mans. Hausgebrochen löscht so sein Fort peim Hemdfänger was aus, ein Vermehrwert, Quasyl. Haus räuchern wird Feuer, Haus Freuer schwirrt keim Funke uswh. usb.

Schlauen Sie rein und leersen Sie!

Herr Sprechtakel: Wird Weihnachten schöner, wenn der Enzyklop unterm Weihnachtsbaum liegt? Wenn ja, warum?

phrasardeur: Nee. Solang wie das Teil ungern dem Bäumle liecht, wird Asbest der Liebe nicht schön, Herr! Da muselmannes schohn noch hervorkramen, ausplacken und reinschlauen und leersen, Hund, lachen, Hund, sich fragen (Hund?), kleine Antwort herhalten. Dazu frohnt: Zeilen g lück mit vielen, phielousovielen t eilen, aber pralli. An Irrer Ställe, an leer stehle des konzensummierenden Indiwiedumms, hahalso (hach nee, nun fauch doch, Publikkommbeimpfung) Schlicht Weihnachten wird schöner, nein, Ihre pflanze Lebbe wird zig um hund währt und, ach, zig Jahrmeen verlangern, ja verlangern, und nie!

Weh es: Schalmeinen sie Nonn aber nickt der Enzücklob sei handnährend so verlümmelt wie.

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Die Schwierigkeiten zweier Liebenden

Die heutige NZZ interviewt den Triester Germanisten Claudio Magris (S. 44). Besonders neckisch an diesem Interview ist folgende Passage:

Haben Sie das kleine, fette „r“ entdeckt?

Die Schwierigkeit zweier Liebender.

Man möchte fast hoffen, dass der Setzer oder die Setzerin (die gibt es natürlich schon lange nicht mehr, doch jetzt glauben wir mal noch dran) absichtlich ins Fach der fetten Typen griff, um zu zeigen – ja was denn? Vielleicht:

  • Zu zeigen, dass das grosse Drama des schwindenden Genitivs im Kleinen liegt? (Der pessimistische Setzer.)
  • Zu zeigen, dass der Genitiv den schönen Liebenden sowieso schlecht bekommt. (Der optimistische Setzer.)
  • Dass die Schwierigkeiten zweier Liebenden sich zu treffen am Übergewicht des einen liegt? (Der mahnende Setzer.)
  • Dass der grosse Germanist den kleinen Genitiv nicht beherrscht? (Der vorwurfsvolle Setzer.)
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„Kinder zu erziehen“ und „Frage zu stellen“

Bereits in Einträgen zwei Einträgen (hier und hier) befasste ich mich mit der Berichterstattung zum „Vergewaltigungsfall in Seebach“.

Ein Kommentator der ersten Analyse störte sich anscheinend an der Nennung der SVP im Zusammenhang der Analyse und meint, ich wäre in „das dumme Clichee abrutscht und [hätte] das Unheil der Welt bei der SVP [ge]sucht“. Da bin ich nun etwas ratlos, hatte ich ja bloss konstatiert:

Und natürlich ist die SVP (Schweizerische Volkspartei) die meistgenannte politische Akteurin. Es folgen SP, CVP und FDP mit je ähnlichen Frequenzen.

Dass die SVP offensichtlich meistgenannte Partei ist in diesem Kontext hängt wohl auch mit deren Öffentlichkeitsarbeit zusammen, die die Interessen der Partei immer wieder effizient zu nutzen weiss. Mehr lässt sich aus den Daten nicht lesen.

Doch möchte ich auf obenstehende Grafik aufmerksam machen, die die Berichterstattung des Tages-Anzeigers zum Thema als Basis hat (Klick auf die Grafik zeigt sie vollständig!). Diesmal habe ich sog. Trigramme, das sind 3-Wort-Gruppen, berechnen lassen. Da ich den gestrigen Abend primär technische Probleme bei der Erstellung der Grafik löste, kann ich heute noch keine Analyse bieten. Doch die geneigten Leserinnen und Leser mögen vielleicht ihre Beobachtungen als Kommentar kund tun!

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Die Jugend

Im letzten Sprechtakel präsentierte ich erste Ergebnisse meiner korpuslinguistischen Recherche zum Seebacher „Fall“, wie er in Tages-Anzeiger und NZZ mehrheitlich bezeichnet wird. Der „Fall“: Die mutmassliche Vergewaltigung eines 13-jährigen Mädchens.

Die präsentierte Wortwolke der Nomen und Eigennamen, die besonders häufig in NZZ und Tages-Anzeiger in der Berichterstattung dazu erschienen, gibt dem „Fall“ das sprachliche Gesicht. Und eine der auffallenden Merkmale dieses Gesichts sind die folgenden Nomen:

Jugend (1x)
Jugendanwalt (7x)
Jugendanwälte (1x)
Jugendanwalts (1x)
Jugendanwaltschaft (7x)
Jugendbande (1x)
Jugenddienstes (1x)
Jugendforensik (3x)
Jugendliche (139x)
Jugendphase (1x)
Jugendpsychiaterin (4x)
Jugendpsychologe (1x)
Jugendsexualität (1x)
Jugendstaatsanwaltschaft (1x)
Jugendstrafgesetz (2x)
Jugendstrafrecht (4x)
Jugendstrafurteile (5x)
Jugendversteher (1x)

(Liste gibt Detail der Darstellung „Berichterstattung zum Vergewaltigungsfall in Zürich-Seebach im Tages-Anzeiger und in der Neuen Zürcher Zeitung: Nomina und Eigennamen“ wieder.)

Kriminalität unter Jugendlichen wird in der Medienöffentlichkeit so empört verhandelt, wie sie verbreitet ist (vgl. auch die Kommentare hier und hier auf „medienzirkus“). Dies zeigt eine Studie zu „Erfahrungen mit Gewalt“ unter Jugendlichen, über die Manuel Eisner und Denis Ribeaud in der heutigen NZZ berichten („Tabuisierte sexuelle Gewalt unter Jugendlichen“; NZZ vom 28. November 2006, S. 55).

Da die Resultate dieser Studie in teilweise frappantem Kontrast zur medienöffentlichen Meinung steht, zitiere ich hier die wichtigsten Resultate:

Im Jahr 1999 wurden über 2600 15-Jährige aus dem Kanton Zürich nach ihren Erfahrungen mit Gewalt befragt. Dabei ging es sowohl um die aktive Ausübung von Gewalt seit dem 13. Lebensjahr als auch um Erlebnisse als Opfer.

Folgendes wurde dabei festgestellt:

  • […] dass im Kanton Zürich jedes Jahr etwa 800 Mädchen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren Opfer von sexueller Gewalt werden. In der ganzen Schweiz dürften es mehrere tausend sein.
  • [Zur Frage, ob sexuelle Gewalt zu- oder abnahm:] In Deutschland liegen für mehrere Städte wiederholte Dunkelfeldbefragungen vor, die auf einen merklichen Rückgang in den vergangenen 8 Jahren hinweisen.
  • Minderjährige sind im Kanton Zürich bei dieser Altersgruppe für mindestens jedes dritte Opfer von sexueller Gewalt, also für rund 300 Fälle pro Jahr verantwortlich.
  • In den meisten Fällen kennen sich Täter und Opfer, die Delikte ereignen sich in der Regel in Wohnungen des Täters beziehungsweise des Opfers oder im Umfeld von Partys und Discos.
  • Wenn die Täter Erwachsene waren, gaben 17 Prozent der Opfer an, das Delikt bei der Polizei angezeigt zu haben. In den Fällen mit minderjährigen Tätern waren es nur 3 Prozent.
  • [Auf die Frage, weshalb die jugendlichen Opfer keine Anzeige erstatteten] nannten [sie] Gründe, in denen sie ihre Abgrenzung von der Erwachsenenwelt zum Ausdruck bringen. Angst vor dem Täter wurde hingegen praktisch nie als Motiv genannt.
  • Die Ergebnisse bestätigen nur teilweise die Vorstellung, dass sexuelle Gewalt unter Jugendlichen ein «Balkanproblem» sei. Die grösste Gruppe der Täter waren Schweizer, die etwa 35 Prozent ausmachten. Rund 25 Prozent stammten aus dem ehemaligen Jugoslawien und etwa 15 Prozent aus der Türkei.
  • Wichtig ist schliesslich zu beachten, dass sexuelle Belästigung unter Jugendlichen, besonders an Schulen, ein sehr viel breiteres und mit den Mitteln des Strafrechts nicht zu bewältigendes Problem darstellt. In der Zürcher Studie gaben rund 25 Prozent der befragten Neuntklässler an, an ihrer Schule sexuelle Belästigungen unter Schülern zu beobachten.

In der Medienberichterstattung zum Fall erhält man rasch den Eindruck, dass die „Jugend“ in dieser Kriminalität besonders starke Empörung hervorruft. Eisner und Ribeaud nennen Gründe, weshalb es besonders schwierig ist, Gewalt unter Jugendlichen zu unterbinden: Die Abgrenzung der Jugendlichen von der Erwachsenenwelt, aber auch die Breite des Phänomens.

Die Hilflosigkeit der „Gesellschaft“ (auch sie wird besonders oft zitiert) zeigt sich in Nomina, wie wir sie gestern schon beschrieben haben. Und in einer breiten Palette an Menschen und Institutionen, die sich um die Jugend kümmert: Von der Jugendforensik bis zum Jugendversteher. Ob die „Jugendlichen“ wirklich verstanden werden?

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Zugespitzt: Die Täter, der Fall, das Mädchen und die SVP

Noch letzte Woche beherrschte die Schweizer Medienwelt ein Thema, bei dem auch ich nicht umhin komme, es als schrecklich zu bezeichnen: Die wiederholte Vergewaltigung eines 13-jährigen Mädchens durch minderjährige Schüler in Zürich-Seebach.

Ich glaube, bei der ganzen Diskussionen über Jugend, Sexualität, Ausländer und Gesellschaft lohnt ein Blick auf Sprache. Besser: Die Art des Sprechens darüber. Wo Angst, Empörung oder Wut medialisiert werden, sind Floskeln, schräge Vergleiche und Klischees nicht weit. Ihnen kritisch zu begegnen, könnte helfen, nüchterner zu sehen.

Gehen wir das Problem linguistisch an: Am einfachsten greifbar sind Zeitungstexte zum Thema. Ich analysierte eine Woche Berichterstattung zum Thema in der Neuen Zürcher Zeitung und im Tages-Anzeiger. Nach und nach werde ich Resultate und Interpretationen dazu hier präsentieren. Die naheliegendste: Welche Nomen erscheinen in der Berichterstattung zum Fall?

(Klick auf’s Bild zeigt die ganze Grafik!)

In der Grafik ist sichtbar, welche Nomen in beiden Zeitungen (orange), nur in der NZZ (gelb) und nur im Tages-Anzeiger (rot) erscheinen. Orange die verbreitensten Schlagworte, um das Thema zu fassen.

Die Beschuldigten: Albaner, Balkan, Ausländer, Burschen.

Die Mitschuldigen: Eltern, Erziehung, Familienstruktur (NZZ), Film, Fernsehen (NZZ), Gesellschaft, Gewaltdarstellung, Gruppe und Gruppendynamik, Herkunft, Hintergrund, Identität, Kultur, die Linke und die Netten (sagt die SVP), die Schule, die Sexualisierung (NZZ).

Die Experten: Beratungsstelle, Fachleute, Fachmann, Fachstelle, Jugendpsychiaterin (NZZ), Kinderschutzgruppe (Tagi), Schulpsychologischer (Dienst).

Die Zeitungen pflegen dabei Eigenheiten: Der Tages-Anzeiger spricht von den Frauen, die als Freiwild angeschaut würden, nennen den Kosovo, das Leid, thematisiert die Schuldzuweisung, berichtet von der Taskforce und auch explizit von einer Täterin.

In der NZZ liest man von der Banalisierung, vom Computerspiel, von Heranwachsenden, von Mutprobe und der Pornographie – und, von Tatverdächtigen (auch von Tätern).

Und natürlich ist die SVP (Schweizerische Volkspartei) die meistgenannte politische Akteurin. Es folgen SP, CVP und FDP mit je ähnlichen Frequenzen.

Die wenigen Wörter fassen doch erstaunlich gut unsere Denkmuster und Argumentationsfiguren zusammen. Wirklich überraschend ist das alles nicht…

Und zuletzt: Mehr Augen sehen mehr! Die Analysen und Kommentare meiner Leserinnen und Leser interessieren mich natürlich sehr.

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Intimitäten des Konsums: Wenn die Fertigpizza in die Windeln macht

Sie liegen verlassen, vergessen, vereinsamt und nutzlos im Körbli, Wägeli oder beim Bancomaten. Sie dienten als Gedankenstütze oder mahnten, endlich das Verdrängte zu erledigen. Kommen sie aber in meine Hände, offenbaren sie die intime Welt der Gelüste unserer Mitmenschen. Ich glaube, ich habe ein neues Hobby gefunden: Sammeln von fremden Einkaufszetteln!

Kürzlich erbarmte ich mich diesem hier:

Vielversprechend und rhythmisch-poetisch beginnt er mit „Windel, Erdbeere…“, doch wir stocken bereits: „Fertigpizza“! Die wild-romantische Assoziation zu Streifzügen im Beerenwald, die Erinnerung an die Zeit der Jäger und Sammler, wird hart durchbrochen durch die banale Fertigpizza, die jedoch gleichsam leitmotivisch den Fortgang bestimmt: „Milch, Quark…“ evoziert zwar als retardierendes Moment nochmals den archaischen Charakter der Grundnahrungsmittel. Das Finale zeigt aber unmissverständlich, wie überholt unsere vergangenen Schwärmereien sind: „Sandwich“.

Doch ich bin nicht Literaturwissenschaftler, sondern Linguist. Erstaunlich, wie die Verfasserin – ich schliesse aus dem Schriftbild daraus – den Plural ignoriert: EINE Windel, EINE Erdbeere plante sie zu kaufen. Oder erweist sie sich bloss als schreibfaul? Warum schreibt sie „Fertigpizza“ und nicht bloss „Pizza“? Es gibt im Supermarkt ja nur fertige Pizze! Ist diese junge (weil: Fertigpizza-Konsumentin) Mutter (weil „Windel“ und „Quark“/“Erdbeere“ fürs Kindermüsli) so fertig mit ihren Nerven, dass ihr das „Fertig-“ als Hoffnung an eine Zeitersparnis am Abend wichtig ist?

Doch vielleicht kauft gar nicht sie ein, vielleicht ist der Adressat also ihr FreundPartnerMann? Dann wäre „Fertigpizza“ im Singular vielleicht als leise Kritik an seinen Essgewohnheiten zu verstehen: „Ja, kauf‘ doch deine Scheiss-FERTIG-Pizza, wenn du die Küche schon meidest wie ich den Plural auf dem Einkaufszettel!“

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Sprechtäkeli: Ernster Pflotsch

Bevor wir unsere Blicke obligatorischerweise in die USA richten, denken wir zuerst ganz lokal:

  • Ist das ein Kampf der elektronischen Medien um Image und Publikum? Das Schweizer Fernsehen hatte ja vor einiger Zeit beschlossen, in der Wettersendung „Meteo“ so schöne Begriffe wie „chuute“ oder „sträätze“ zu verwenden und mit „Pflotsch“ um sich zu schmeissen, also die Prognosen in Dialekt zu servieren. Damit sei man den Zuschauerinnen und Zuschauern nöcher, vor allem bei einem so emotionalen Thema.

    Heute hat nun Radio DRS verkündet, ab Mai 2007 das „Rendez-vous am Mittag“ und die „Info 3“ neu in Standardsprache statt Dialekt zu sprechen (den Rendez-vous-Beitrag dazu hier!). Natürlich spiele der Dialekt noch immer eine Rolle im Radio. Informationen aber, die auch Ausländer, Touristinnen und andere Nicht-Schweizerdeutsch-Sprechende interessieren könnten, müssten in Standard sein.

    Das ist gut. Wenn sich nun die Kleinen dank Hochdeutsch im Kindergarten ein völlig unverkrampftes Verhältnis zum Standard aneignen, führt das natürlich zu einem Problem: Die standarddeutschen Nachrichten werden sie plötzlich herzig finden und so den Dramen der Welt respektlos gegenüber stehen. Den Dialekt-Wetterbericht dagegen werden sie nicht nur der schlechten Prognose wegen als kalt und herzlos empfinden!

  • Amerika: Was Herr Sprechtakel schon lange mal mit Herrn Blocher machen wollte, wurde nun mit US-Präsidenten-Reden gemacht:

    Ein historischer Vergleich der meistgenannten Inhaltswörter in präsidialen Reden. 1889 waren die „indians“, 1917 „german“ und 1941 „freedom“ Trumpf. Und während Bush (junior) noch mit „economy“, „families“ und „invest“ in die Amtszeit einstieg, endet diese nun (bald) mit den „terrorists“ und dem cheiben „iraq“. Die linguistische Analyse könnte noch raffinierter werden – die amerikanische Politik auch.

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Oh ein O!

Zum Wochenende hin eine Trouvaille aus einem Werbespot von 1981:

Fünfundzwanzig Jahre Werbegeschichte sind eine lange Zeit! Aber diese Tobler-o-rum-Werbung hat heute beinahe Kultcharakter. Die kongeniale Verschmelzung von Körperteilen und Buchstaben, die Ausnutzung der Polysemie von „Oh!“ und „o“ – und das alles im karrierten Hemd…

Die Tobler-o-rum-Schoggi gibt es heute nicht mehr, es gibt aber noch immer Anhänger und Liebhaberinnen dieser 1932 erfundenen Schokolade. Eine Arbeit von Franziska Zürcher („Von Nimrod über Tobler-o-rum zu Toblerone Pralinés. Ein Einblick in Reichtum und Wandel der Tobler-Schokoladen im Laufe eines Jahrhunderts„) hilft vielleicht über den Sehnsuchtsschmerz hinweg!

[Nachtrag] Diese Seite verhilft zu noch tieferen nostalgischen Gefühlen und zeigt auch die eine ältere Verpackung der Tobler-O-Rum.

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