Eine Pandemie, wie die gegenwärtige des COVID-19-Virus, ist einerseits ein medizinisches Problem. Andererseits ein kommunikatives Phänomen. Als Linguistinnen und Linguisten am meinem Lehrstuhl beobachten wir den COVID-19-Diskurs momentan genau, um Rückschlüsse zu ziehen, wie die Gesellschaft auf die Pandemie reagiert. Und wir wollen wissen, wie diskursiv gehandelt wird: Wie wird COVID-19 diskutiert und damit gefasst? Welche Handlungen folgen daraus?
Basis der aktuellen Analyse ist ein Korpus von gut 324.000 Kommentaren in den Onlinemedien 20 Minuten, SRF Online, Nau.ch und Blick.ch zu Artikeln über das Coronavirus zwischen Januar und Mitte April 2020. Das sind gut 10 Mio. Wörter. Anstelle einer klassischen Medienanalyse interessieren wir uns also für die Reaktionen der Leserinnen und Leser auf die Berichterstattung.
Wir werden in den kommenden Wochen weitere Analysen veröffentlichen und die Datenbasis laufend ausbauen.
Heute geht es um die grobe Charakteristik des Diskurses – und den Wendepunkt am 13. März 2020: An diesem Tag verkündete der Bundesrat einschneidende Massnahmen in der Schweiz: Geschlossene Schulen, keine grösseren Veranstaltungen mehr und Grenzbeschränkungen. Welche Themen beherrschten den Diskurs davor und welche danach?
Eine Keyword-Analyse der beiden Teilkorpora (Kommentare vor dem 13. März – Prä-Lockdown – und solche vom und nach dem 13. März – Lockdown) zeigt, wie sich der Diskurs in der Zeit verändert hat. Berechnet wurde, welche Wörter für die jeweilige Zeitperiode statistisch auffallend sind.
Typisch für die Phase Prä-Lockdown sind Kommentare, die das Virus selbst thematisieren und mit anderen Viren vergleichen:
Prä-Lockdown: Virus, Grippe, Coronavirus, Viren, Inkubationszeit, Sars
Wichtiges Thema sind zudem die abgesagten Veranstaltungen:
Prä-Lockdown: Fasnacht, Basler, abgesagt, Fasnächtler, Veranstaltungen, Playoffs, Zuschauer, ZSC, Autosalon, Fans
Beide Aspekte, also das Virus selber und die Veranstaltungen, sind in den Kommentaren nach dem 13. März kein wichtiges Thema mehr. Auch Ausdrücke, die Ängste und Panik thematisieren, sind charakteristisch für die Prä-Lockdown-Phase, nicht aber für die Lockdownphase:
Prä-Lockdown: Panik, Hysterie, Angst, Panikmache, Panikmacherei
Der nationale und internationale Verkehr sind in der Prä-Lockdown-Phase ein viel diskutiertes Thema, das mit der Frage, ob die Grenzen geschlossen werden sollen oder nicht verbunden ist:
Prä-Lockdown: abgeriegelt, Grenze, Grenzen, Zug, Flughäfen, schliessen, Pendler, Züge
Zudem werden verschiedene Verhaltensmassnahmen thematisiert:
Prä-Lockdown: Hände waschen, Quarantäne, Stosszeiten, Ingwer, Händewaschen, Husten
Ganz anders sieht das in der Phase des Lockdowns aus. Der Lockdown selber ist selbstredend wichtiges Thema:
Lockdown: Krise, Lockdown, Ausgangssperre, Polizei, Regeln, Lockerung, Hilfe, Shutdown
Damit verbunden die Verhaltensmassnahmen und Tätigkeiten – vom Hände waschen ist nicht mehr oft die Rede, dafür vom Einkaufen, den Tätigkeiten zuhause und den Virentests:
Lockdown:
Tests
Klopapier, WC-Papier
Abstand, eingehalten
zuhause, Solidarität, zu Hause, draussen, spazieren, Zeit, Garten
einkaufen, bestellen, Haare, Online
Während in der Prä-Lockdown-Phase die wirtschaftlichen Probleme höchstens mit dem Ausdruck „Börse“ auffallend sind, geht es in der Lockdown-Phase um die handfesten Probleme (oder generell Herausforderungen, wie etwa bei der Post) der Wirtschaft:
Lockdown: Swiss, Post, Lufthansa, Kurzarbeit, arbeiten, Baustellen, Vermieter, Kredit, Baustellen, Läden
Schliesslich ein Vergleich der Akteure, die in den jeweiligen Phasen dominant diskutiert werden: In der Prä-Lockdown-Phase sind es:
Prä-Lockdown: Behörden, Medien, BAG, Sanders, Greta
Wir sehen also mit „Sanders“ und „Greta“ noch zwei Verweise auf Diskurse, die vor Corona dominant waren: Die US-Wahlen und der Klimawandel. In Sachen COVID-19 sind die abstrakten Ausdrücke „Behörden“, „BAG“ und „Medien“ auffallend, typisch für pauschalkritische Äusserungen.
In der Lockdown-Phase sind die häufig erwähnten Akteure:
Lockdown: BR, Koch, Pöstler, Senioren
Der Bundesrat wird also seit den Entscheidungen vom 13. März dominanter thematisiert, dazu natürlich Daniel Koch als Leiter der Abteilung «Übertragbare Krankheiten» des BAG. Die Senioren werden als Vertreter der grössten Risikogruppe thematisiert und die Pöstler als wichtige Akteure der Versorgung.
Zum Schluss weisen wir noch auf Ausdrücke hin, die auf den ersten Blick unauffällig erscheinen. Es sind wichtige Ausdrücke, die kommunikatives Handeln im Diskurs repräsentieren:
Lockdown: müssen, wir, Sie/sie, !
Zugenommen haben Formulierungen mit „wir müssen“, die also gesellschaftliche Obligationen postulieren: wir müssen Masken tragen, wir müssen solidarisch sein etc. Aber es wird auch auf jene verwiesen, die „arbeiten müssen“, und auf uns alle, die zuhause „bleiben müssen“. Die Personalpronomen „wir“ und „Sie/sie“ sind auch in der aktuellen Phase dominanter geworden und sind Indikatoren für eine Argumentation aus dem Kollektiv der Gesellschaft heraus („wir“) bzw. der Abgrenzung („Sie“ als Höflichkeitsanrede im direkten Dialog, „sie“ in der 3. Person Plural).
Zudem hat die Verwendung von Ausrufezeichen in den Kommentaren zugenommen – die Diskussionen in den Kommentarspalten sind hitziger geworden.
Ausrufe- und Fragezeichen sind für die Corona-Kommentare jedoch ganz generell bezeichnend. Während die Analyse oben nur die Unterschiede zwischen den beiden Phasen analysiert hat, folgt zum Schluss nun noch eine Liste der Ausdrücke, die für die Kommentare generell charakteristisch sind (im Vergleich mit einem allgemeinen Zeitungskorpus):
Satzzeichen !, …, ?
Ich, Virus, ja, nicht, du, man, Corona, was, Schweiz, ist, wenn, es, da, Grippe, mal, Masken, so, dann, Massnahmen, alle, Danke, jetzt, alles, einfach, bitte, Leute, selber, euch, %, weiss, wir, kann, genau, BAG, sind, nur, nichts, mir, zuhause, Coronavirus, leider, aber, auch, schon, Schweizer, arbeiten, noch…
Weitere Analysen werden folgen.
Team: Noah Bubenhofer, Livia Sutter, Niclas Bodenmann, Daniel Knuchel, Maaike Kellenberger