Der Wissenschaftsjournalismus hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Während früher Zeitungen berichteten, dass „Forscher in den USA gezeigt haben, dass…“, wird heute ein differenzierteres Bild der Wissenschaft gezeichnet: In der Wissenschaft gibt es keine einheitliche Meinung zu einem Problem, da unterschiedliche Theorien und Modelle in Konkurrenz zueinander stehen (Konfliktualität) und wissenschaftliche Erkenntnis immer nur vorläufig ist (Fragilität). Siehe dazu auch den Beitrag meines Kollegen Scharloth.
Vor dem Hintergrund dieser Hypothese wollte ich untersuchen, welche Orte in Wissenschaftsartikeln genannt werden. Denn Orte stehen natürlich einerseits für Untersuchungsgegenstände („Eisbären in der Arktis“, „Minderheitensprachen in Italien“), andererseits für wissenschaftliche Institutionen („Forscher in den USA“, „Wissenschaftler der Stanford-University“, „der Germanist am Lehrstuhl für Angewandte Linguistik an der TU Dresden“). Daran, wie sich die Nennung von Orten in wissenschaftsjournalistischen Texten in den Jahrzehnten veränderte, könnte man sehen, wie sich das Bild der Wissenschaft in den Medien geändert hat.
Grundlage für meine Analysen war das (online verfügbare) Archiv des Spiegels von 1947 bis 2010. Die Texte wurden korpuslinguistisch aufbereitet und dabei auch Ortsbezeichnungen automatisch annotiert (mittels German Named Entity Recognition von Faruqui/Pado) und georeferenziert (mit OpenStreetMap Nominatim). Anschließend habe ich auszählen lassen, welche Orte wann in Artikeln zu wissenschaftlichen Themen wie oft genannt werden. Dabei unterschied ich die Nennung von Regionen („USA“, „Nordafrika“) und Orten („Berlin“) und visualisierte das auf Karten (R, rgdal Library).
Vorerst möchte ich nur zwei Karten zeigen: Die erste (oben) zeigt die genannten Orte und Regionen in der Zeit von 1947-1960, die zweite von 1990-2010. Die roten Punkte stehen für Orte, die grünen Flächen für genannte Regionen/Länder. Je dunkler und größer die roten Punkte, desto häufiger wurden die entsprechenden Orte genannt, je dunkler die grünen Flächen, desto häufiger die Regionen.
Was sieht man?
- 1990-2010 gibt es viel mehr und auch größere rote Punkte über fast die ganze Welt verstreut. Es werden also im Vergleich zu den 40er und 50er-Jahren mehr unterschiedliche Orte (und nicht nur Regionen) genannt.
- Bei den älteren Daten bezieht sich die Berichterstattung hauptsächlich auf Europa, wo aber relativ differenziert verschiedene Orte genannt werden.
- Ebenso bei den älteren Daten sind viele Regionen der Welt weiß – dunkel eingefärbt sind aber die USA, die oft genannt wird, ohne aber differenziert bestimmte Orte zu nennen.
Die Karte scheint auf den ersten Blick zu bestätigen, dass in der Wissenschaftsberichterstattung differenzierter Regionen genannt werden – wobei nicht unterschieden werden kann, ob es sich hauptsächlich um genannte Institutionen oder um erforschte Regionen handelt. Und in der neueren Zeit wird mit der Wissenschaftsberichterstattung fast die ganze Welt abgedeckt, was früher nicht der Fall war, wo man eurozentristischer war und die restliche Welt, wenn überhaupt, undifferenziert nennt – eben in Form der „Forscher aus den USA“.
Eine methodische Anmerkung: Diese Sicht auf die Daten wird durch eine visuelle Analyse ermöglicht. Erst sie erlaubt es, die Menge an Daten zu überblicken.