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Literaturwissenschaft beobachtet
Topologien des 20. und 21. Jahrhunderts

Noah Bubenhofer

11. Januar 2002
Universität Basel

Dank an Lorenz für die inhaltlichen Anmerkungen zu den mir relativ fremden physikalischen Theorien
und an Ruth und Stefan für ihre Korrekturen.
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Inhalt

1  Einleitung
2  Von der Relativitätstheorie zur Systemtheorie
    2.1  Relativitätstheorie: Beobachtung des Beobachters
    2.2  Quantentheorie: Kontingenz
    2.3  Radikaler Konstruktivismus: Viabilität
    2.4  Systemtheorie: Komplexitätssteigerung und -reduktion
    2.5  Zwischenfazit
3  Literaturwissenschaft und Interpretation
    3.1  Foucault: Wille zur Wahrheit
    3.2  Derrida: Dekonstruktion
    3.3  Literaturtheorie und Metapher
    3.4  Zwischenfazit
4  Literaturwissenschaft in der Zukunft
    4.1  Grundlegende Entwicklungen
    4.2  Literatur und Literaturwissenschaft
    4.3  Die Literaturwissenschaft in zehn Jahren
5  Fazit
6  Literatur

1  Einleitung

Das Geschäft der Literaturwissenschaft ist Interpretation. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts basierte die Interpretation auf hermeneutischen Methoden. In den letzten 40 Jahren öffnete sich die Literaturwissenschaft gegenüber anderen Methoden, die sich sozialwissenschaftlich, linguistisch, strukturalistisch oder dekonstruktivistisch nennen.

Dieser Paradigmenwechsel charakterisiert sich auch durch den Einzug neuer Prinzipien: Relativität und Konstruktion sind zwei Prinzipien, die nicht nur die Geisteswissenschaft, sondern auch die Naturwissenschaft stark beeinflussten. Gerade der Blick in die Naturwissenschaften bringt Interessantes zu Tage: Wissenschaftstheoretisch kann ein Bogen von der naturwissenschaftlichen Wende nach Newton zu literatur- und sozialwissenschaftlichen Methoden wie Dekonstruktion und Systemtheorie geschlagen werden. Zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften sind Parallelen in der Art, wie sie beobachten, beobachtbar.

Im Zentrum der Arbeit steht ein Vergleich verschiedener Theorien aus der Natur- und Geisteswissenschaft. Im ersten Teil wird der Bogen von der Relativitäts- und Quantentheorie zu Konstruktivismus und Systemtheorie geschlagen. Darauf folgt der Blick auf ausgewählte, nicht-hermeneutische literaturwissenschaftliche Verfahren. Im letzten Teil werden die Parallelen zwischen der natur- und geisteswissenschaftlichen Methodengeschichte aufgezeigt und Schlüsse für ein Blick in die Zukunft der Literaturwissenschaft gezogen. Es wird sich zeigen, dass Mechanismen der Komplexitätssteigerung und -reduktion dabei eine wichtige Rolle spielen.

2  Von der Relativitätstheorie zur Systemtheorie

2.1  Relativitätstheorie: Beobachtung des Beobachters

Die wenigsten haben die Relativitätstheorie vollständig begriffen. Aber der Name der Theorie enthält schon die entscheidende Pointe: Alles ist irgendwie relativ. Das genügt, um das Zeitklima einzufärben. Man weiss dann immerhin soviel, dass die Relativitätstheorie alle alten Sicherheiten über den Haufen geworfen und ein neues Weltbild begründet hat. Und eben das hat ihren Erfinder Albert Einstein zur wissenschaftlichen Vaterfigur und zu einer Art Stellvertreter des lieben Gottes gemacht. Dazu hat sicher beigetragen, dass Einsteins Wissenschaftlerhaupt mit den wirren weissen Haaren und dem gütigen, durchgeistigen Antlitz wie eine Ikone göttlicher Allwissenheit wirkt. [Schwanitz 1999]

Schwanitz' Einleitung zum Abschnitt über Einsteins Relativitätstheorie bringt es auf den Punkt: Eine physikalische Theorie entfaltet ihre Wirkung auch ausserhalb der Physik, in Bereichen, in denen die genaue Beweisführung wenig relevant ist.

Die Kernaussagen der speziellen Relativitätstheorie [Einstein 1969]1 rütteln an der traditionellen Vorstellung von Zeit: Gleichzeitigkeit ist nicht beobachtbar. Der Zustand eines Gegenstandes ist relativ; Lichtstrahlen, welche der Beobachter beobachtet, können sich nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen. Bei grossen Distanzen zwischen Beobachter und Gegenstand ist demnach die Zeitspanne zwischen dem Ereignis und dem Beobachtungszeitpunkt gross. Die Explosion eines Sterns, der ein Lichtjahr vom Beobachter entfernt ist, ist im Augenblick der Beobachtung schon ein Jahr alt.2

Einsteins Relativitätstheorie ist ein erster entscheidender Schritt in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Nachdem die Naturwissenschaften bis dahin das Subjekt aus ihren Beobachtungen ausgeschlossen hatten, um unverfälschte und objektive Daten zu gewinnen, holt Einstein «den Beobachter nun zurück und beobachtet, wie der Beobachter beobachtet» [Schwanitz 99].

2.2  Quantentheorie: Kontingenz

Ebenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts legte Max Planck den Grundstein für eine weitere physikalische Innovation: Die Quantentheorie, welche anfänglich zögerlich, später immer deutlicher die klassische Physik in Frage stellte. Diese stand vor dem Problem der Unvereinbarkeit ihrer Modelle von Thermodynamik und Elektrodynamik [Görnitz 99]3, sowie weiterer Paradoxien4. Planck fand in seiner Quantenhypothese eine Lösung des Problems5, deren weitreichende Auswirkung auf das Weltbild der Naturwissenschaften ihm bewusst war.

Doch wo liegen nun die Gründe für diesen innovativen Charakter der Quantentheorie? bezeichnet die klassische Physik als Theorie der Objekte, die Quantentheorie jedoch als Theorie der Beziehungen. In der klassischen Physik ist ein punktförmiges Teilchen in seinem vergangenen und seinem künftigen Verhalten bestimmt, «wenn sein Zustand zu einem einzigen Zeitpunkt genau bekannt ist. [...] Der Zustand enthält alle die Informationen, die im Rahmen einer Theorie zu einem Zeitpunkt über das betreffende Objekt im Prinzip erhalten werden können» [Görnitz 99]. Anders verhält es sich in der Quantentheorie: Dort wird ein Teilchen, ein Zustand unter Berücksichtigung all seiner Beziehungen zur Umgebung betrachtet. «Das heisst, jeweils einem klassischen Zustandswert entsprechen unendlich viele für die Quantenzustände» [Görnitz 99]. Diese unendliche Zahl von Quantenzuständen hat eine Mehrdeutigkeit der quantentheoretischen Beziehungen zwischen den Teilchen zur Folge. Im Kontrast zur klassischen Sichtweise wird die Quantensichtweise deutlich:

klassische Sichtweise: Wenn ein bestimmter klassischer Zustand [...] vorliegt, dann liegt keiner der anderen Zustände vor, die dem Objekt im Prinzip auch möglich wären, und kann somit bei einer Nachprüfung auch nicht gefunden werden.

Sichweise der Quantentheorie: Beim sicheren Vorliegen eines Quantenzustandes q1 können trotzdem viele andere Zustände qm, die von q1 verschieden sind, bei einer Nachprüfung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ebenfalls gefunden werden. [Görnitz 99]

Kritiker der Quantentheorie deuten diese Wahrscheinlichkeit aber als Nichtwissen bzw. ungenügendes physikalisches Wissen um.6

Diese Mehrdeutigkeit, die in der Quantentheorie Platz findet und gegen das Prinzip der Logik vom tertium non datur richtet, kann mit dem Begriff der Kontingenz umschrieben werden. Heisenberg prägte den Begriff der Unschärferelation oder Unbestimmtheitsrelation7: Diese Relation besagt, dass in der Quantentheorie von einem Teilchen nie gleichzeitig die exakten Zustände zweier Grössen - z.B. Ort und Impuls - bestimmt werden können. Es kann nur der eine oder der andere exakt gemessen werden. Zu einem Zustand, in dem ein scharfer Ort gemessen werden kann, kann ein jeder beliebige Impuls gefunden werden - und umgekehrt [Görnitz 99].

Eine weitere Folge der Grundannahmen der Quantentheorie ist die Problematisierung der Messung:

Die Bestimmung von Grössen an einem Quantenzustand, der ja als Feststellung von Eigenschaften von Beziehungen verstanden werden darf, ist in der Regel ebenso als eine Handlung aufzufassen wie andere Handlungen des Alltags auch. Dieser Vorgang ist fundamental verschieden von der Feststellung von Objekteigenschaften, wie es in der klassischen Physik geschieht. Letztere hängen nicht von der Reihenfolge ihrer Überprüfung ab, daher darf man sie zu Recht so behandeln, als ob sie unabhängig von ihrer jeweiligen Feststellung objektiv existieren. Im Quantenfall ist dies - wie im richtigen Leben - nicht immer so. Die Prüfung einer Beziehung auf ihre Eigenschaften beeinflusst diese, sie muss danach nicht mehr die gleiche sein wie zuvor. Ein Quantenzustand wird daher oft durch den Messprozess verändert. [Görnitz 99]

Dieser kurze Überflug über die Quantenphysik lässt deutlich zwei Prinzipien erkennen, welche für die Naturwissenschaften - und auch die Geisteswissenschaften - des 20. Jahrhunderts wichtig sind: die Kontingenz (oder Unschärfe, Mehrdeutigkeit) und das Problem der beeinflussenden Messung.

Kontingenz bezeichnet die «Negation von Notwendigkeit und Unmöglichkeit» [Krause 01]. Während in der traditionellen Philosophie seit Kant Kontingenz mit Zufälligkeit in Verbindung gebracht wird8, differenziert die Systemtheorie genauer: Nach Luhmann bezeichnet Kontingenz

[d]ie Einheit der Differenz von [...] Möglichkeit und Unmöglichkeit des Wirklichen. [Kontingenz] generalisiert auf sinnhafte Möglichkeiten des Erlebens und Handelns hin und distanziert dabei von Wirklichem als nur bestimmt Möglichem. Daraus folgt nicht Beliebigkeit [...], denn es gibt zufällige und nicht-zufällige Konditionierungen des Möglichen. [Krause 01]

Im geisteswissenschaftlichen Kontext ist die Annahme einer Kontingenz nicht unüblich. Für die Naturwissenschaften jedoch ist die Vorstellung des sowohl als auch suspekt. Doch gerade die Quantenmechanik erforderte ein Umdenken.

2.3  Radikaler Konstruktivismus: Viabilität

In den Naturwissenschaften finden sich auch Wurzeln des radikalen Konstruktivismus. Dieser spezielle Ansatz der konstruktivistischen Erkenntnistheorie gründet auf der Ablehnung einer isomorphen Verbindung zwischen ontologischer Wirklichkeit und der Wahrnehmung. Er bezeichnet Kognition als kreativen Akt, welcher in der Konstruktion einer eigenen Wirklichkeit mündet. Mit Maturana, Varela, von Foerster und von Glasersfeld entwickelte sich der radikale Konstruktivismus in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus systemtheoretischer, neurophysiologischer und kybernetischer Forschung heraus. So zielen einige Ideen auf naturwissenschaftliche Problemstellungen ab, z.B. auf das Modell der trivialen (TM) und nicht-trivialen Maschinen (NTM). Die NTM unterscheiden sich von den TM dadurch, dass sie ihren Eigenzustand in operational geschlossener Weise verändern können [Foerster 92]9. Dadurch erreichen sie eine weit grössere Komplexität als TM, die auf einem einfachen, kausalen Input-Output-Modell beruhen. Die Beobachtung einer NTM ist so ungemein schwieriger und die Analyse ihrer Funktionsweise wird immer unmöglicher. So, wie die traditionelle Naturwissenschaft beobachte, setze sie TM voraus, wo sie es doch eigentlich mit NTM zu tun hätte. Das ist der Vorwurf der radikalen Konstruktivisten.

Wie bereits erwähnt, lehnt der radikale Konstruktivismus eine isomorphe Beziehung zwischen ontologischer Wirklichkeit und wahrnehmbarer Wirklichkeit ab. Statt dessen setzt er das Konzept der viablen Beziehung ein: Viabilität10 wurde in der Entwicklungsgeschichte zur Bezeichnung der Überlebensfähigkeit von Arten, Individuen und Mutationen verwendet. Im konstruktivistischen Sinn meint Viabilität das Passen im Sinne des Funktionierens. «Das heisst, etwas wird als ‹viabel› bezeichnet, solange es nicht mit etwaigen Beschränkungen oder Hindernissen in Konflikt gerät» [Glasersfeld 92].11

Um in der Welt bestehen zu können, d.h. erfolgreich zu agieren, baut das Subjekt sich eine Vorstellung der Welt, die funktioniert, also viabel ist. Das Erkenntnisinteresse liegt nicht im Erkennen der ontologischen Wirklichkeit, sondern in der Kreation einer viablen Wirklichkeit.

2.4  Systemtheorie: Komplexitätssteigerung und -reduktion

Luhmanns Systemtheorie zeigt starke Parallelen zu konstruktivistischen Theorien. Sie legt sich das Konzept der Autopoiesis zu Grunde:

Als autopoietische Systeme wollen wir Systeme bezeichnen, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren. Alles, was solche Systeme als Einheit verwenden, ihre Elemente, ihre Prozesse, ihre Strukturen und sich selbst, wird durch eben solche Einheiten im System erst bestimmt. Oder anders gesagt: es gibt weder Input von Einheiten in das System, noch Output von Einheiten aus dem System. Das heisst nicht, dass keine Beziehungen zur Umwelt bestehen, aber diese Beziehungen liegen auf anderen Realitätsebenen12 als die Autopoiesis selbst. [Luhmann]

Versucht ein solches System nun «Sinn» zu erfassen, also ontologische Wirklichkeit zu erkennen, wird dieser Versuch zum scheitern verurteilt sein. Denn «Sinn ist [...] ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt» [Luhmann 98]. Ausserhalb von Systemen, welche Sinn als Medium benutzen und reproduzieren, existiert kein Sinn. Dieser konstruktive Akt von Sinnkonstitution ist eine beobachtende Operation, die dem System die Möglichkeit gibt, sich von seiner Umwelt zu unterscheiden.

Sinn reduziert und ermöglicht gleichzeitig Komplexität. Denn Sinn ist der fortlaufende Prozess der Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit. Ein psychisches System produziert laufend Gedanken, ein soziales System laufend Kommunikation. Jeder Gedanke und jede Kommunikation verweist auf Nachfolgemöglichkeiten: Etwa ein weiterer anschlussfähiger Gedanke oder weitere anschlussfähige Kommunikation, deren «Aktualitätskern» ebenfalls wieder zerfällt und andere Möglichkeiten zur Auswahl stellt. Sinn ist somit ein Instrument der Selektion. Da jedoch Nicht-Aktualisiertes virtuell erhalten bleibt und später - sofern es noch immer anschlussfähig ist - aktualisiert werden kann, ist Sinn eine Art und Weise, Komplexität zu verarbeiten: Einerseits wird durch die Selektion Komplexität reduziert, andererseits durch die Erhaltung noch nicht aktualisierter Möglichkeiten, Komplexität erhalten (vgl. auch ).

Da Systeme operativ geschlossen sind, müssen sie, um sich von ihren Umwelten zu unterscheiden, Eigenkomplexität entwickeln [Luhmann 98]. Diese Steigerung der Komplexität geht mit einer Reduktion der Komplexität einher: Wird ein System gebildet, erzeugt es geringere systemeigene Komplexität und grössere Umweltkomplexität. So enthält aus Sicht des Systems seine Umwelt immer «mehr Ereignismöglichkeiten, als jemals im System aktualisiert werden könnten» [Krause 01].

Temporal gesprochen, befindet sich die Gesellschaft - und somit alle ihre Systeme - in einer laufenden Ausdifferenzierung. Systeme bilden Teilsysteme, die versuchen, Komplexität zu reduzieren und somit ihre Eigenkomplexität erhöhen. Luhmann unterscheidet verschiedene Stufen der Differenzierung der Gesellschaft. Die heutige funktionale Differenzierung überlagert die früheren stratifikatorischen und segmentären Differenzierungen der Gesellschaft. Im Gegensatz zu früher kennzeichnet sich die funktional differenzierte Gesellschaft dadurch, dass die einzelnen Teilsysteme gleichwertig, aber gemäss ihren Funktionen differenziert sind. Die Teilsystemgrenzen dieser Form der gesellschaftlichen Differenzierung verlaufen «nun nicht mehr an Lokalitäten und Kopräsenzen wie in der segmentär differenzierten Gesellschaft, auch nicht mehr an den relativ undurchlässigen Schichten wie in der stratifizierten Gesellschaft» [Kneer/Nassehi].

2.5  Zwischenfazit

Die vier zunächst literaturwissenschaftsfremden Theoriegebilde bringen eine Reihe neuer Begriffe und Methoden in den Wissenschaftsdiskurs. Besonders wichtig im Hinblick auf die Beobachtung der Literaturwissenschaft scheinen mir die folgenden Aspekte: Die Relativierung der Objektivität durch die Beobachtung des Beobachters, die Relativierung des Prinzips des tertium non datur durch den Begriff der Kontingenz, die Relativierung der Kognition, insbesondere durch das Konzept der Viabilität und die systemische Selbstreflexion, welche die Prinzipien der Autopoiesis sowie der Komplexitätssteigerung und -reduktion erzeugt.

Luhmann bezeichnet die Auswirkungen einer Reihe von neueren Theorien als radikal:

Wir orientieren uns dabei [für die Entwicklung der Luhmann'schen Systemtheorie, NB] an neueren Entwicklungen in der Systemtheorie, aber auch an Entwicklungen, die unter anderen Theorienamen laufen – etwa Kybernetik, cognitive sciences, Kommunikationstheorie, Evolutionstheorie. In jedem Falle handelt es sich um interdisziplinäre Diskussionszusammenhänge, die in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten einen Prozeß radikaler Veränderung durchlaufen haben und mit der Systembegrifflichkeit der 50er und frühen 60er Jahre kaum noch etwas gemein haben. Es sind ganz neue, faszinierende intellektuelle Entwicklungen, die es erstmals ermöglichen, die alte Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften oder hard sciences und humanities oder gesetzesförmig bzw. textförmig (hermeneutisch) gegebene Gegenstandsbereichen zu unterlaufen. [Luhmann 98]

3  Literaturwissenschaft und Interpretation

Das Prinzip der Ausdifferenzierung der Systeme, welches in Kapitel dargestellt wurde, zeigt sich schön an der Entwicklung der Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert. zeigt in seinem Aufsatz Einheit in der Differenz, wie seit den 1920er-Jahren eine Pluralisierung der Germanistik zu beobachten ist, nachdem damals das Paradigma des philosophischen Positivismus durch die Geisteswissenschaften abgelöst wurde. Die Germanistik begann sich damals mit Nachbardisziplinen wie Philosophie, Psychologie, Geschichte, Kunstgeschichte etc. zu beschäftigen. Dies kann als Versuch gewertet werden, eine geisteswissenschaftliche Antwort auf den philologischen Positivismus zu finden. Beispiele solcher Antworten sind das Hermeneutik-Konzept eines Wilhelm Dilthey oder die lebensphilosophischen Modelle von Nietzsche und Bergson.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieb ein Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft aus. Umso heftiger wurde dieser aber knapp 20 Jahre später gefordert: Es entbrannte ein Kampf gegen eine «deutsche» und «bürgerliche» Literaturwissenschaft. Der Paradigmenwechsel sollte in einer Hinwendung zu einer kommunikations- und sozialwissenschaftlichen Wissenschaft bestehen. unterscheidet in der Folge zwei sich etablierende Richtungen: Eine gesellschaftswissenschaftliche und eine linguistisch-strukturalistische Grundlegung. Als bedeutsam für die erstgenannte Richtung nennt die Antrittsvorlesung von unter dem Titel Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Als Methoden mit einer linguistisch-strukturalistischen Grundlegung sieht Voßkamp den Linguistic turn, den zeichentheoretischen Strukturalismus und weitere kultursemiotisch erweiternde Theorierichtungen.

In grösseren Zügen beschreibt Aleida die Geschichte der Lektüre als Prozess in drei Schritten, in dessen Verlauf sich die Instanzen, welche an der Interpretation beteiligt sind, vermindern. Es ändert sich der Deutungsrahmen von Literatur. Zu Beginn13 besteht der Deutungsrahmen aus drei Instanzen: Text, Leser und Hodeget. Der Leser kann zwar lesen, doch nur unter Einbezug des Hodegeten als Wegweiser kann er auch verstehen [Assmann 96]. Bei der hodegetischen Lektüre erschien der Text «als ein Gewebe mit grossen luftigen Maschen, in die man an jedem beliebigen Punkt einhaken, einbrechen und Sinn einfüllen konnte» [Assmann 96]. Das ändert sich durch die Reformation mit der neuen Hermeneutik: Jetzt wird der Text als intern konsistent und suffizient angesehen. Leser und Schrift werden autark, der Text wird unter dem «Axiom von der Ganzheit und Geschlossenheit» [Assmann 96] verstanden. Der Deutungsrahmen wird also zweistellig: Text und Leser bleiben übrig. Als bislang letzten Schritt bezeichnet Assmann die Verschmelzung von Leser und Text im Text. Es ist die Dekonstruktion, die dadurch der Wut des Verstehens widerstehen möchte und «aus der Kunstlehre des Textverstehens eine Kunstlehre der Unlesbarkeit» [Assmann 96] macht.14

Die folgenden Abschnitte sollen ausgewählte Aspekte der seit den 80er-Jahren verstärkt erscheinenden nicht-hermeneutischen Konzepte15 darstellen, welche im Kontext der theoriegeschichtlichen Entwicklungen in anderen Teilen des Wissenschaftssystems16 angesehen werden können.

3.1  Foucault: Wille zur Wahrheit

Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen. [Foucault 00]

Foucaults These lädt zur Beobachtung von Diskursen ein - mehr noch: Sie lädt ein, unseren «Willen zur Wahrheit» in Frage zu stellen. Denn Prozeduren der Ausschliessung (Verbot, Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn, Wahrem und Falschem), interne Prozeduren (welche klassifizieren, anordnen und verteilen) sowie Prozeduren der Verknappung der sprechenden Subjekte (durch Rituale, Diskursgesellschaften und Doktriken) kontrollieren und steuern die Diskurse der Gesellschaft.

Die Diskurse unterwerfen sich «der Ordnung des Signifikanten» [Foucault 00] und ihre Begehren werden so unweigerlich an ihre Formen gebunden. Der wahre Diskurs aber,

den die Notwendigkeit seiner Form vom Begehren ablöst und von der Macht befreit, kann den Willen zur Wahrheit, der ihn durchdringt, nicht anerkennen; und der Wille zur Wahrheit, der sich uns seit langem aufzwingt, ist so beschaffen, dass die Wahrheit, die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu verschleiern. [Foucault 00]

Den Willen zur Wahrheit demaskiert Foucault als «gewaltige Ausschliessungsmaschinerie», der Wahrheit als «sanfte und listig universelle Kraft» darstellt, Wahrheit, welche «Reichtum und Fruchtbarkeit ist» [Foucault 00].

Foucault begibt sich in die Position eines Beobachters zweiter Ordnung, denn ansonsten könnte er der Ausschliessungsmaschinerie «Wille zur Wahrheit» nicht entkommen. Und er schlägt sogar eine Methode vor, um den Ordnungen der Diskurse zu entkommen: Die Souveränität des Signifikanten muss aufgehoben werden; dazu müssen die Prinzipien der Umkehrung, Diskontinuität, Spezifizität und der Äusserlichkeit angewandt werden.17 Anstelle der regulativen Prinzipien der Schöpfung, Einheit, Ursprünglichkeit und Bedeutung treten Ereignis, Serie, Regelhaftigkeit und Möglichkeitsbedingung.

3.2  Derrida: Dekonstruktion

Derrida beschreibt und inszeniert in seinen Texten den fundamentalen Bruch mit dem metaphysischen Denken.

Dekonstruktion versucht, das sinnhafte Zentrum, auf das alle sinnkonstituierenden Strukturen zulaufen, zu dekonstruieren - dekonstruieren deswegen, weil sie sich dazu konstruktiv derselben kritisierten Strukturen bedient; destruieren deswegen, weil darin der Konstruktcharakter der Konstruktion (ihre Kontingenz) offenbar wird und so jeder mögliche Anspruch auf Naturnotwendigkeit oder Gottgegebenheit zerstört wird. [Marius/Jahraus 97]

Die dekonstruktivistische Lektüre eines Textes soll der Interpretation zuvor kommen und ihre Konstruktion aufdecken. Sie denkt gegen die Metaphysik des Sinnes an, kann dessen Ende aber prinzipiell nicht erreichen, da sie sonst selber metaphysisch würde. Dekonstruktion muss also selber dekonstruierbar sein, was sie auch ist. «Dekonstruktion ist als ein Denken ‹im Ende› bzw. ‹am Rande› der Metaphysik [verstehbar], [ist] aber nicht genuin nach-metaphysisch» [Marius/Jahraus 97].

Der Grund für den Zerfall des Sinnzentrums liegt im laufend sich aktualisierenden Verweisungszusammenhang zwischen signifiant und signifié der Zeichen: Jedes Zeichen verweist «unablässig auf andere, vorausgegangene oder nachfolgende Zeichen» und bewirkt dadurch «den Zerfall der eigenen Identität und der Sinnpräsenz» [Zima 94]. Dieser Bedeutungswandel des Zeichens nennt Derrida différance: Ein Signifikant kann immer nur «als différance eines anderen erscheinen» [Marius/Jahraus 97]. Es gibt keinen Ursprungspunkt, welcher nicht selbst von différance abhängt.18

Die Gegenüberstellung von Systemtheorie und Dekonstruktion [Marius/Jahraus 97] zeigt deutliche Parallelen der beiden Supertheorien. Beiden gemeinsam ist die konstituierende Differenz von Bewusstsein und Kommunikation19 . Die Unterschiede sind aber im Bereich von Stil und Gestus sichtbar:

Dekonstruktion inszeniert, wovon sie spricht, indem sie davon spricht, wohingegen die Systemtheorie davon spricht, was sie inszeniert: nämlich die Entfaltung von Paradoxien. Dekonstruktion lässt paradoxerweise das eigene Schweigen reden. Dagegen steht die Tautologie der Systemtheorie, die redet, wo sie redet, und schweigt, wo sie schweigt. [Marius/Jahraus 97]

Dekonstruktion zeigt den Spielern, dass sie dem Spiel nicht entkommen können, weil es kein Ausserhalb gibt; die Systemtheorie aber zeigt, wie sich die Regeln während des Spiels umschreiben können. [Marius/Jahraus 97]

3.3  Literaturtheorie und Metapher

Die nicht-hermeneutischen Literaturtheorien stellen die aristotelische Metapherntheorie auf den Kopf. Traditionellerweise wird als Metapher die uneigentliche Bedeutung einer wörtlichen Bedeutung bezeichnet. Nach Aristoteles ist es das Privileg der Dichtung, diese Übertragung ins Uneigentliche vorzunehmen. Die Übertragung funktioniert über Regeln der Analogie, betont also die Ähnlichkeit eines Gegenstandes mit einem anderen [Bossinade 00].

Gemäss der Dekonstruktion ist ein nicht-metaphorisches Sprechen unmöglich. Demzufolge ist die Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung in der dekonstruktivistischen Denkweise obsolet.20 Dies auch im Hinblick auf das Problem der Referentialität21: «Inwiefern ist ein erstes sprachliches oder aussersprachliches Objekt anzunehmen, das von der Metapher in die Sprache eingetragen oder in der Sprache auf andere Wortstellen übertragen wird?» [Bossinade 00] Die Dekonstruktion sieht keine solche ‹Urmetapher› vor.

Das Analyseverfahren Derridas besteht dann auch in der Allegorisierung des zu untersuchenden Textes. «Die Metapher ist für Derrida Objekt und Instrument der Analyse ineins» [Bossinade 00]. Das Problem der Metaphysik besteht aber darin, dass sie nicht erkennt, dass auch sie sich der Metaphorik nicht entziehen kann. Auch der Philosophie macht Derrida diesen Vorwurf: «Die Metapher ist weniger im philosophischen Text vorhanden als dieser in der Metapher» [Bossinade 00].

Während Derrida seine Analyse auf metaphorische Art und Weise vollzieht, bedient sich Paul de Man der Allegorie: Seine allegorische Lektüre - z.B. von Kleists Über das Marionettentheater [De Man 88] - soll die Aporie des Textes zeigen [Bossinade 00]. Der Text zeigt sich als irreparabel:

Die Disjunktion zwischen der ästhetisch empfänglichen und der rhetorisch aufmerksamen Lektüre, die beide gleichermassen zwingend sind, löst die Pseudo-Synthese zwischen innen und aussen, Zeit und Raum, Behälter und Inhalt, Teil und Ganzem, Bewegung und Stillstand, Selbst und Verstehen, Schreibendem und Leser, Metapher und Metonymie auf, die der Text [hier: De Mans Proust-Lektüre, NB] aufgebaut hat. Sie wirkt wie ein Oxymoron, aber da sie eher eine logische, denn gegenständliche Unvereinbarkeit anzeigt, ist sie tatsächlich eine Aporie. Sie bezeichnet das unwiderrufliche Eintreten zumindest zweier sich einander gegenseitig ausschliessender Lektüren und behauptet die Unmöglichkeit wirklichen Verstehens sowohl auf der Ebene der Figuration wie auf der der Themen. [De Man 88]

Für De Man sind literarische Texte grundsätzlich aporetisch, logisch nicht auflösbar; das Wie und Was des Textes ist nicht vereinbar. So können literarische Texte auch nur allegorisch gelesen werden, da sich Literatur einer positiven Erkenntnis versage. «Keine andere Instanz als Literatur selber soll für das zuständig sein, wovon sie spricht» [Bossinade 00]. Die Literatur wird autopoietisch.

Die Wirkung, die diese Betrachtungsweise auf die literaturwissenschaftliche Methodik zeigt, beschreibt :

Da die Sprachgebundenheit jeder Aussage und die ‹Rhetorizität› der literarischen Mittel im Vordergrund stehen, muss die Autorität des Autors oder der Gedanke einer organischen Einheit des Kunstwerks zurücktreten. Die Bedeutung eines literarischen Textes lässt sich lediglich ‹intertextuell› und über unterschiedliche Kontextualisierungen bestimmen. Das eröffnet der Interpretation einen erheblichen Auslegungsspielraum, in dem Abschied genommen wird von der auf einen Sinn festgelegten Interpretation. Entscheidend ist nun allerdings das Verhältnis von Text und Kontext und die jeweils vorgenommene Kontextualisierung. Deshalb kann es immer nur partiale Sinnfestlegungen geben. Wichtig wird daher die Geschichte der Interpretationen. [Vosskamp 95]

3.4  Zwischenfazit

Die Kostproben poststrukturalistischen Denkens führen uns wieder zurück zur Begrifflichkeit von Konstruktivismus und Systemtheorie, aber auch Relativitäts- und Quantentheorie. So lässt sich eine geistige Topologie des 20. Jahrhunderts skizzieren, was auch versucht, indem er einen Theorievergleich zwischen Luhmanns System- und Foucaults Diskurstheorie anstellen möchte:

Ich sehe eine moegliche Verbindungslinie zwischen Foucault und Luhmann tatsaechlich im Begriff des Archivs und in Luhmanns Adaption des frame-Begriffs oder des Begriffs des Schemas aus der kognitiven Psychologie. [...] Aber ich habe eigentlich weniger an Theorievergleiche gedacht (das ist nicht mein Job), sondern daran, dass die zentralen Motive Foucaults (und einer ganzen Reihe anderer Leute, auch Freud, auch Lacan, auch Derrida) Konvergenzpunkte haben, durch die sich die geistige Topologie des Jahrhunderts definiert. Das eigentlich Interessante, das sind diese Motive (und nicht, wer von wem Kenntnis hatte und wer wen zitiert. Das ist ziemlich langweilig.) [Fuchs]

Wo finden sich die in Kapitel definierten Schlüsselbegriffe der geistigen Topologie des 20. Jahrhunderts in der Literaturwissenschaft wieder? Das dekonstruktivistische Verständnis, insbesondere die allegorische Lektüre Paul de Mans, verweist auf das Konzept der Autopoiesis. Literatur ist nur literarisch fassbar, literarische Analyse bleibt im engen Zirkel gefangen.

Wenn für De Man allegorisch gelesene literarische Texte in der Aporie enden, logisch nicht auflösbar sind22, erinnert das an das Ausgangsproblem, vor welchem die moderne Physik stand. Die Quantenmechanik bietet keine Auflösung der Aporie, jedoch die Lösung durch Kontingenz: Beide Lesarten existieren nebeneinander, obwohl sie sich widersprechen.

Foucault letztlich erkennt ebenfalls die autopoietische Funktionsweise unserer Wirklichkeits-, oder eben: Diskurskonstruktion. Darüber hinaus schlägt er ein Verfahren der Irritation und Reizung vor23, um die Ordnung der Diskurse zu stören.

4  Literaturwissenschaft in der Zukunft

Die Beobachtung des Beobachters, Kontingenz, Viabilität, Autopoiesis, Komplexitätsreduktion und -steigerung sind die Schlagworte, welche die Topologie des 20. Jahrhunderts beschreiben. Im vorigen Kapitel zeigte ich, wie diese Konzepte Eingang in literaturwissenschaftliche Methoden gefunden haben. Jetzt steht zur Diskussion, wie die Topologie der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts aussehen könnte und wie sich die Literaturwissenschaft daran schmiegen wird.

Das Geschäft des Auguren ist schwer - und wäre in seiner heutigen Eigenart vor 50 Jahren nicht möglich gewesen24. Es bleibt zudem das Problem des blinden Flecks: Gerade weil wir gelernt haben, uns als Beobachter zweiter Ordnung und selbstreferentielle Systeme zu sehen, müssen wir unsere strukturelle Blindheit in die eigene Prognose einbauen, dürfen aber auch an das Prinzip der selffulfilling prophecy glauben.

4.1  Grundlegende Entwicklungen

Die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft wird weiter zunehmen. Gerade auch in den Wissenschaften werden jetzt neu sich öffnende Felder noch lange Stoff für spezialisierte Arbeit bieten. Daneben sind aber gesellschaftliche Grundtendenzen beobachtbar, welche eine ganzheitlichere, interdisziplinäre und globale Weltsicht fordern25. Damit geht aber zwangsweise eine Komplexitätssteigerung der Weltsichten einher. Es wird immer schwieriger, die Welt widerspruchsfrei und homogen zu sehen. Es entsteht ein Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion, nach interpretativen Mustern, welche die komplexe Welt herunterbrechen können.

Wissenschaft kann dieses Bedürfnis teilweise stillen. Die Gentechnologie kann Fragen nach den Variabilitäten des Lebens erklären. Die Neurowissenschaft findet Deutungsmuster für die Vorgänge des Hirns.26 Soziologische Methoden, unter ihnen auch die Systemtheorie, werden weiterhin versuchen, die komplexer werdende Welt zu fassen und somit Komplexität zu reduzieren.

Allerdings ist abzusehen, dass die für diese Komplexitätsreduktion nötige Steigerung der Eigenkomplexität zu Problemen führt. In der Sinnkonstruktion treten Brüche und Paradoxien auf. Diese bleiben als solche bestehen und können vielleicht nicht einmal mehr mit dem Kontingenz-Begriff gekittet werden.

4.2  Literatur und Literaturwissenschaft

Wie schon im 20. Jahrhundert, wird Literatur einerseits versuchen, viable Interpretationen zu liefern oder aber die sichtbar werdenden Brüche bewusst hervorheben, andere Sinnkonstruktionen zu irritieren und zu reizen. Gemeinhin wird erstere als Trivialliteratur bezeichnet und ist negativ konnotiert. Bei einem steigenden Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion ist es aber fraglich, ob diese negative Konnotation aufrecht erhalten wird. Es ist anzunehmen, dass solche literarischen Sinnkonstruktionen als willkommenes Element auf der Suche nach viablen Wegen gelten werden. Im Sinne Foucaults müsste man solche literarischen Sinnkonstruktionen auch unter dem Zwang der Diskurse sehen. Sie sind gewalttätige Ausschliessungsmaschinerien.27

Das System der Literaturwissenschaft wird entsprechend auf diese Arten von Literatur reagieren. Gemäss der bisherigen Entwicklung der Methoden werden auch diese in Operationsmodi aufteilbar sein: Literaturwissenschaft, welche durch Literatur erzeugte Komplexität reduzieren (hermeneutische Verfahren), und solche, die Komplexität steigern möchte (z.B. dekonstruktivistische Verfahren). Eine Kreuztabelle würde die möglichen Kombinationen des Aufeinandertreffens zeigen. Es bleibt aber die Frage, was die Ergebnisse dieser Kombinationen sind. Was passiert, wenn eine komplexitätssteigernde Methode auf einen ebensolchen Text angewandt wird? Wie entwickelt sich die Eigenkomplexität des interpretierenden Systems? Und hilft die Interpretation (oder: Sinnkonstruktion) dann eher Komplexität zu reduzieren oder wirkt sie gegenteilig? Die gleichen Fragen stellen sich für die drei weiteren Kombinationsmöglichkeiten. Im Unterschied zu heute muss dabei das grosse Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion beachtet werden. Die Tabelle zeigt die unterschiedlichen Verfahren und deren Ergebnisse.

  Modi
Fall 1 2   3 4
Literaturwissenschaft +   -
Literatur + -   + -
Zustand der resultierenden Interpretation komplex komplex   komplex einfach
+ = Modus der Komplexitätssteigerung/ - = Modus der Komplexitätsreduktion

Tabelle 1: Operationsmodi der Literaturwissenschaft und der Literatur und deren Wirkung

Die Resultate halten sich nicht an eine intuitiv-mathematische Logik. Diese würde für das Aufeinandertreffen von ungleichem und gleichem je gleiches voraussagen28. Das Ergebnis einer Literaturwissenschaft, die nach dem Modus Komplexitätssteigerung arbeitet, ist bei der Verarbeitung von Literatur, die ebenfalls Komplexität steigern möchte, komplex. Die Fälle 2, 3 und 4 verhalten sich aber intuitiv logisch.

In drei von vier Fällen baut das System der Literaturwissenschaft Komplexität auf. Bei gleichmässiger Verteilung der Fälle ergibt sich ein leichter Anstieg von Komplexität. Geht man aber davon aus, dass der vierte Fall29 immer seltener möglich ist, kann ein exponentieller Anstieg von Komplexität vorausgesagt werden, egal, wie die Literatur operiert30.

4.3  Die Literaturwissenschaft in zehn Jahren

Zum Schluss präsentiere ich Thesen, die eine Literaturwissenschaft der Zukunft charakterisieren.

Die funktionale Differenzierung ist weit fortgeschritten, durch immer umfassendere Information hat die Komplexität der Welt zugenommen. Paradoxien und Brüche beherrschen unsere Sinnkonstruktionen. Komplexitätsreduktion ist deshalb elementar und unumgänglich. Wo Literatur selber diese Funktion nicht wahr nimmt, macht es die Literaturwissenschaft. Dort ermordet sie den Beobachter zweiter Ordnung und stellt das dekonstruktivistische Ohrensausen ab.31 Doch auch wenn die Literaturwissenschaft mit dem Modus der Komplexitätsreduktion arbeitet, produziert sie wiederum hauptsächlich Komplexität.32 Die funktionale Differenzierung der Literaturwissenschaft selber ermöglicht zudem eine Vielzahl anderer Methoden, die Komplexität weiter steigern wollen.33

Die Reizungen und Irritationen der Literatur und Literaturwissenschaft ist die Reaktion auf eine Renaissance von Kausalitätsmodellen und entrelativierten Wirklichkeitskonstruktionen der Naturwissenschaften.

Literaturwissenschaft, die Komplexität reduzierend ebensolche Literatur interpretiert34, ist denkbar, wenn ideologische Strukturen auch in diesen Systemen Auftrieb erhalten. Die Komplexität der Welt macht die Systeme empfänglich für stark Komplexität reduzierende Interpretationen, wie sie politischen und religiösen Ideologien eigen sind.35

5  Fazit

Komplexitätssteigerung ist der Literaturwissenschaft inhärent, oft auch wenn sie einen gegenteiligen Operationsmodus anwendet. Mit guten Gründen kann man annehmen, dass dies allgemein für interpretative Systeme gilt; der Beobachter zweiter Ordnung ist davon nicht ausgenommen. Durch Beobachtung wird also Komplexität erzeugt, was zwangsweise zur Beobachtung führen muss, dass Komplexität stetig erzeugt würde. Die Prophezeiung erfüllt sich selber.

Auch die Naturwissenschaften sind von diesem Problem befallen. Sie entwickeln immer komplexere Beobachtungsinstrumente, um die komplexer werdende Welt fassen zu können. Auf wissenschaftsgeschichtlicher Ebene sind die Parallelen in der Methodenwahl ersichtlich.

Komplexität ist der Preis für eine Welt, die frei von autoritären ideologischen Einflüssen ist. So gesehen müssen wir alles daran setzen, kreative Methoden zu entwickeln, die Komplexität erzeugen, die reizen und irritieren. Diese Methoden müssen auch immer dann zur Anwendung gelangen, wenn Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Literatur unterkomplex beobachtet werden. Ob diese Methoden die Dekonstruktion oder eher die Systemtheorie, die Quantentheorie oder die Relativitätstheorie zur Verfügung stellt, ist irrelevant. Mögen sich noch viele dazu gesellen.

Literaturverzeichnis

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Fussnoten:

1 Die spezielle Relativitätstheorie erschien 1905, die allgemeine Relativitätstheorie 1914/15.

2 In der Physik ist von Zeitdilatation (einem ruhenden Beobachter erscheint eine Zeitspanne in einem bewegten System grösser) und Längenkontraktion (einem ruhenden Beobachter erscheint die Länge eines bewegten Gegenstands in Bewegungsrichtung verkürzt) die Rede [Bertelsmann].

3 Das Problem kann so paraphrasiert werden: «Wenn ein Körper erhitzt wird, so hat dies ohne Zweifel mit der Thermodynamik zu tun. Die Strahlung, die er dabei aussendet, nämlich Licht- und Wärmestrahlung, ist eine elektromagnetische. Die Gesetze, die man bis dahin aus dem Versuch einer Zusammenfassung dieser beiden Theorien ableiten konnte, widersprachen aber der Erfahrung in einer grundlegenden Weise, denn nach diesen Theorien hätte ein heisser Körper beliebig viel Energie abstrahlen können. Auch zeigten genaue Untersuchungen der mathematischen Struktur von Mechanik und Elektrodynamik, dass Raum und Zeit in beiden Theorien vollkommen verschieden behandelt werden mussten.» [Görnitz 99]

4 Für eine weiterführende Darstellung vgl. .

5 «Nach dieser Hypothese wird diese Strahlung [der Energie, NB] nicht so ausgesendet, wie es die klassische Theorie vorschreibt, sondern in einzelnen Energieportionen, die Planck ‹Quanten› nannte. Dieser Begriff hat der Theorie ihren Namen gegeben, und vielfach wird das Quantenhafte - das Portionenweise - als ihre wesentlichste Eigenschaft angesehen» [Görnitz 99].

6 Letztlich zeigt dieser Streit Parallelen zur unterschiedlichen Auffassung konstruktivistischer Theorien über die ontologische Wirklichkeit auf: Während radikale Konstruktivisten eine ontologische Wirklichkeit leugnen (diese würden den radikalen Anhängern der Quantentheorie entsprechen), sprechen sich gemässigtere konstruktivistisch Denkende, z.B. Systemtheoretiker für die Existenz einer ontologischen Wirklichkeit, die zwar nicht erfahren werden kann, aus.

7 Der Begriff Unschärferelation ist bekannter als jener der Unbestimmtheitsrelation. Sie meinen jedoch das gleiche. Heisenberg benutzte in seinen späteren Publikationen den zweiten Begriff, der nach den Sachverhalt besser trifft.

8 Vgl. die Definition in : «Seit Kant ist die traditionelle Unterscheidung notwendig-möglich-kontingent-unmöglich durch die Dreiteilung notwendig-möglich-unmöglich ersetzt und Kontingenz mit Zufälligkeit gleichgesetzt.»

9 Vgl. zum radikalen Konstruktivismus auch und

10 Ernst von Glasersfeld prägte im konstruktivistischen Kontext diesen Begriff, dessen Namen vom englischen «Viability» (deutsch: «Gangbarkeit») abgeleitet ist.

11 Glasersfeld illustriert das Konzept der Viabilität mit dem Beispiel des blinden Wanderers: Ein blinder Wanderer möchte einen Fluss jenseits eines Waldes erreichen. Auf der Suche nach einem gangbaren Weg wird er einige Male den Kopf an den Baumstämmen anstossen, doch nach einigen Versuchen einen Weg finden, der ihn zum Fluss führt. Wenn der Wanderer nun jeden erfolgreichen Weg in seinem Kopf aufzeichnet, hat er kein Bild des Waldes, aber ein Netz von möglichen Wegen im Kopf. Das gespeicherte Netz aller möglichen Wege hilft dem Wanderer zwar dabei, erfolgreich den Fluss zu erreichen, gibt ihm aber keine weiteren Informationen über die Hindernisse. Das Netz passt in den «wirklichen» Wald, doch der Wanderer konstruiert sich eine Umwelt, die vielleicht nur aus Schritten besteht. Sie hat keine Gemeinsamkeiten mit der Umwelt eines aussenstehenden Beobachters, die Wald, Bäume, Unebenen etc., enthält ( und ).

12 Es handelt sich also um eine emergente Ordnungsebene: «Emergenz bezeichnet das Auftreten einer qualitativ neuen Ordnungsebene, deren Eigenschaften nicht aus den Eigenschaften des materiellen und energetischen Unterbaus erklärt werden können» [Kneer/Nassehi].

13 Assmann zeigt dies am Beispiel der Apostelgeschichte.

14 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich zwischen diesem Lektüremodell der Dekonstruktion und der Quantentheorie: Letztere verabschiedete sich von der Idee, dass der beobachtete Zustand eines Teilchens alle Informationen über das Teilchen enthält und somit sein vergangenes und zukünftiges Verhalten ablesbar macht (vgl. Kapitel ). Die Dekonstruktion möchte aber genau dies aus der Lektüre (Beobachtung) eines Textes (Teilchens) gewinnen: Dem Text seien die vergangenen und zukünftigen (auch falschen) Lektüren schon eingeschrieben. In diesem Punkt könnte man also behaupten, dass die Quantentheorie ihr «Lektüremodell» schon weiter getrieben hat als die Dekonstruktion.

15 Oder, um mit Assmann zu sprechen, Konzepte, welche Hodegeten und Leser aus dem Verstehensprozess ausschliessen.

16 Vgl. Kapitel .

17 Umkehrung: Die Prozeduren der Ausschliessung müssen als solche demaskiert werden. Diskontinuität: Diskurse dürfen nicht als kontinuierlich, sondern müssen als diskontinuierlich, sich überschneidend, berührend, ausschliessend oder ignorierend angesehen werden. Spezifizität: Diskurse müssen als Gewalt angesehen werden, «die wir den Dingen antun», «[d]ie Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis». Äusserlichkeit: Kein innerer, verborgener Kern des Diskurses muss gefunden werden, sondern seine äussere Erscheinung, welche die Grenzen fixiert [Foucault 00].

18 Vgl. dazu auch das Problem der Referentialität im Zusammenhang mit der dekonstruktivistischen Metapherntheorie in Kapitel .

19 Diese Differenz macht den bedeutenden Bruch in der Phaseneinteilung der Theorie- und Denkgeschichte überhaupt erst manifest [Marius/Jahraus 97]. Oder, ex negationem formuliert: «Aus dem Bereich der Metaphysik heraus war aus logischen Gründen keine Geschichte der Metaphysik zu denken, denn da es ihr um ewige Wahrheit geht, sind ihre Aussagen entweder metaphysisch, d.h. ewig wahr, und haben daher keine Geschichte, oder andernfalls sind es eben keine metaphysischen Aussagen. (Allenfalls hätte man unter Metaphysikgeschichte eine Erzählung verstehen können, die von den Irrfahrten und Entdeckungsreisen auf dem Weg in die ewige Wahrheit berichtet - und als ein solches Tagebuch auf dem mystischen Weg ins Unsagbare könnte man die Texte Derridas auch lesen.) So blieb aber eine eigentliche Geschichte der Metaphysiken als Paradox aus dem zweiwertigen logischen Raum der alteuropäischen Denktradition ausgeschlossen: Metaphysik kann logischerweise weder im Plural noch im Wandel existieren» [Marius/Jahraus 97].

20 Vgl. dazu auch den Begriff des Oszillierens zwischen den Bedeutungen der Metapher: «Die Metapher ist durch die Momente der Wiederholung und der Selbstreferenz gekennzeichnet. [...] die intensionale Ausrichtung der Metapher gilt in erster Linie der Unterscheidungsstruktur, worauf ihre Semantik beruht, z.B. der Grenze, die ‹Mensch› und ‹Wolf› [bei der Metapher ‹der Mensch ist ein Wolf›, NB] auseinanderhält und aufeinander bezieht. Die Metapher ist Thematisierung der Grenze als Paradoxie, als Einheit der Differenz und differentielle Einheit der metaphorisch relationierten Begriffe. Diese Paradoxie wird zunächst erfahren als Gleichzeitigkeit von ‹ist› und ‹ist nicht›, ‹wahr› und ‹falsch›, als eine Oszillation, die zu keinem Ergebnis - keinem ‹Sinn› - führt. Aufgelöst wird die Paradoxie erst dadurch, dass der Rezipient eine zweite Grenze zieht, bei der sowohl ‹Mensch› als auch ‹Wolf› auf die gleiche Seite fallen, eine operationsfähige Grenze, die nicht mehr in der Paradoxie schwebt. Dieser Schritt [...] hat den Effekt, die Paradoxie der Grenze zuzudecken; er leistet eine Nominalisierung - und damit eine Dissimulation der Differenz.» [Wellbery 97]

21 Vgl. Fussnote .

22 Aporie ist in diesem Zusammenhang nicht aus Unwissenheit entstanden, wie die traditionelle Bedeutung bei Sokrates vermuten lassen würde [Prechtl/Burkhard 97], sondern aus strukturellen Gründen. Sie ist auch durch Vermehrung des Wissens nicht auflösbar.

23 Systemtheoretisch gesprochen im Sinne der Störung, Reizung und Irritation von Kommunikation, wie es nur psychischen Systemen möglich ist. Vgl. dazu . Inwiefern die Foucault'schen Diskurse den Luhmann'schen Systemen entsprechen könnten, war Thema einer längeren Diskussion zwischen Peter Fuchs, Rudolf Maresch, John Bednarz u.a. im Diskussionsforum zur Systemtheorie Luhmanns [Fuchs u. a.]. Grösster Unterschied ist wohl, dass Foucaults Diskurse keine eindeutigen Grenzen kennen.

24 Vgl. auch Fussnote zum Problem einer ‹Geschichte der Metaphysik›.

25 Zu denken sind an ökologisch engagierte Organisationen (diese fordern eine ganzheitliche Sichtweise), an neuere Wissenschaftszweige (die interdisziplinär arbeiten möchten, um erfolgreicher zu sein) und an die Wirtschaft (welche global handeln möchte). Sie alle meinen das gleiche: Umwelt dem System einzuverleiben, giessen es aber in eigene Formen.

26 Vgl. z.B. die Thesen des Computerwissenschaftlers , der die Existenz von Maschinen mit Bewusstsein für das Jahr 2020 vorsieht.

27 Vgl. dazu Kapitel .

28 Also: (Fall 1 = Fall 4) π (Fall 2 = Fall 3).

29 Die Literaturwissenschaft möchte Komplexität vermindern und wendet diesen Modus auf Literatur an, die dies ebenfalls macht.

30 Also obwohl Fall 4 noch immer möglich ist.

31 In der Tabelle entspräche dies den Fällen 3 und 4.

32 Fall 3.

33 Fälle 1 und 2.

34 Fall 4.

35 Anschauungsbeispiel dafür ist faschistische Literatur und Literaturwissenschaft im Dritten Reich oder in anderen totalitären Systemen. Ebenfalls üblich ist dies in religiösen Kontexten, denkt man beispielsweise an die Text-Leser-Hodeget-Struktur (vgl. Seite pageref), wenn der Text und Hodeget dem gleichen Denksystem entstammen.


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